Zu angepasst? – Wie Du mehr für Dich selbst einstehst

Zu angepasst?

Wie Du mehr für Dich selbst einstehst

Du lächelst, obwohl du gerade traurig bist.
Du sagst ja, obwohl dein ganzes Inneres Nein ruft.
Du bietest deine Hilfe an, obwohl du keine Energie mehr hast.
Du gehst auf eine Feier, obwohl du eigentlich lieber einen Abend alleine zu Hause verbringen würdest.

Vielleicht kennst du diese oder ähnliche Situationen. Du spürst ganz genau, wonach dir ist und was du gerne tun würdest, handelst dann aber ganz gegensätzlich dazu.

 

Wie kommt es, dass wir oft Dinge tun, nach denen uns gar nicht ist?

Weil wir uns eine wesentliche Frage nicht stellen: Was möchte ich?
Stattdessen schwingt in uns ganz automatisch die Frage: Was möchte der andere? Die Bedürfnisse, Erwartungen und das Wohlbefinden des Gegenübers scheinen wichtiger zu sein als die eigenen. Doch wie kommt das? Schließlich wissen wir doch, dass es uns nicht guttut und ganz bestimmt nicht glücklich macht, wenn wir uns und unsere Bedürfnisse und Wünsche hintanstellen. Eigentlich wissen wir es doch besser …

Und doch passiert es immer wieder. Denn hinter der automatischen Anpassung an das, was andere wollen, brauchen oder wünschen, steckt ein sehr alters Muster, das uns vielleicht noch nicht mal wirklich bewusst ist, das aber jedes Mal blitzschnell anspringt, wenn wir in Kontakt mit anderen Menschen sind. Dieses Muster hat uns im Laufe des Lebens immer weiter von uns selbst wegführt, ohne dass wir es bemerkt hätten. Mitunter ist der Kontakt zu uns selbst so früh verloren gegangen, dass wir irgendwann die eigenen Bedürfnisse gar nicht. mehr wahrnehmen konnten. Wir sind verständnisvoll, zuverlässig, pflichtbewusst und funktionieren. Im Inneren fühlen wir uns aber leer, erschöpft und unerfüllt.

 

Die Empathie-Falle

Wenn dir das alles bekannt vorkommt, dann gehörst du vermutlich auch zu jenen Menschen, die besonders sensibel sind, die über ein hohes Maß an Empathie verfügen, sich gut in andere einfühlen können und einen sechsten Sinn für Schwingungen und Stimmungen haben. Diese Sensibilität bringt mit sich, dass das, was andere wollen, erwarten oder brauchen besonders deutlich wahrgenommen wird. Das bedeutet natürlich nicht, sofort auch entsprechend handeln zu müssen. Theoretisch haben wir ja die Wahl. Die Praxis sieht nur leider oft anders aus.

Im Inneren ruft ein Anteil nach Anpassung und Erwartungserfüllung. Damit verbunden die Hoffnung, dann angenommen, geliebt oder wertgeschätzt zu werden. Und wenn schon nicht das, dann doch zumindest nicht abgelehnt, angegriffen oder ausgeschlossen zu werden. In Wahrheit ist uns klar, dass das so nicht funktionieren wird, dass der Weg zu Liebe und Wertschätzung nicht auf Kosten unserer Bedürfnisse und unseres wahren Wesens gehen kann und darf. Doch dieses sehr früh entstandene Muster hat sich, ob wir wollen oder nicht, zu einem Teil unserer bisherigen Identität entwickelt.

 

Anpassung und Unterwerfung als Überlebensstrategie

Liebe, Angenommensein und Wertschätzung gehören zu den Grundbedürfnissen jedes Menschen. Diesen Bedürfnissen liegt aber ein noch viel wichtigeres und grundlegenderes Bedürfnis zugrunde, das für unser Überleben unumgänglich ist: Sicherheit. Besonders als Kinder brauchen wir davon eine ganze Menge, sind wir doch noch nicht in der Lage, ganz auf uns alleingestellt zu überleben. Wir brauchen die Sicherheit versorgt zu werden, dazuzugehören und geschützt zu werden. Für diese Sicherheit tun wir alles. Und zwar ganz automatisch. Schon im Mutterleib entwickeln Kinder sehr feine Sensoren dafür, wie sie zu sein haben, um zu überleben.

Spürt ein Kind, dass es, so wie es ist, nicht erwünscht oder gewollt ist, passt es sich sehr schnell an. Nicht zu laut, nicht zu fordernd, keine Probleme machend, immer fröhlich, brav, lieb, nett, fleißig – was immer es braucht, um dazuzugehören und von den Bezugspersonen versorgt zu werden, wird zur Lebensdevise. Die Anpassungsstrategie rastet ein. Die Sensibilität des Kindes für die Erwartungen und Bedürfnisse der anderen verfeinert sich nach und nach. Später werden daraus besonders empathische Menschen. An sich eine schöne Qualität, in der großes Potenzial steckt. Allerdings nur dann, wenn der Preis für das hohe Einfühlungsvermögen nicht die totale Selbstaufgabe ist.

 

Empathie für sich selbst

Wer so früh in seinem Leben so feine Sensoren für andere entwickeln musste, hat im Erwachsenenalter dann oft große Schwierigkeiten, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu spüren und für sich selbst einzustehen. Wenn du dich hier nun erkennst, dann verurteile dich nicht dafür, weil du es doch eigentlich besser weißt. Bringe dir vielmehr Verständnis entgegen, dass es eben so ist. Das bedeutet ja nicht, dass es immer so bleiben muss.

Auch wenn der erste Impuls nun ist, dieses Verhalten einfach abzulegen, so wirst du vermutlich auch schon festgestellt haben, dass das nicht ganz so einfach geht. Dein inneres System braucht Zeit, um umzulernen und um zu erkennen, dass ein Nein und das Einstehen für sich selbst nicht (mehr) gefährlich sind.

 

Die heilsame Wirkung von Bewusstsein

Der erste Schritt ist daher, mehr Bewusstsein und vor allem mehr Verständnis für dich und dein Sein zu entwickeln. Beginne damit, dich selbst zu beobachten und dir dabei Fragen zu stellen wie: Wo in meinem Leben funktioniere ich einfach nur, ohne mich selbst wirklich zu spüren? Wo sage ich Ja und stimme zu, obwohl ich ein klares Nein in mir spüre? Wo halte ich Beziehungen oder Aufgaben aufrecht, die mir nur noch Energie rauben?
Je öfter du wahrnimmst, dass du wieder zu sehr in die Anpassung gehst, desto eher wirst du an diesem Verhalten etwas ändern können.

Das braucht Zeit. Bei allem Bewusstsein wird es Situationen geben, in denen das automatische Muster so schnell anspringt, dass wir es erst bemerken, wenn das Ja schon gesagt, das Lächeln schon aufgesetzt und die Zusage zur Familienfeier schon gemacht ist. Wir mögen uns im Nachhinein zwar darüber ärgern, aber zumindest erkennen wir es und haben so die Möglichkeit, beim nächsten Mal anders zu reagieren. Oder vielleicht auch erst beim übernächsten.

Anerkennen, wie es gerade ist, und nach und nach den eigenen Automatismen auf die Schliche kommen, sind schon mal ein guter Anfang.

 

Was dich außerdem noch unterstützen kann, mehr für dich und deine Bedürfnisse einzustehen:

  • Abendlicher Rückblick: Um dir deiner Muster und Verhaltensweisen noch bewusster zu werden, kannst du am Ende des Tages zurückblicken, wann und wo du Ja gesagt hast, obwohl du nicht wolltest, wann du gegen eines deiner Bedürfnisse gehandelt hast, oder wo du Erwartungen erfüllt hast, obwohl dir nicht danach war. Besonders wirkungsvoll ist dieser Rückblick, wenn du ihn schriftlich machst. So sammelst du Situationen und Ereignisse und erkennst noch deutlicher, bei welchen Menschen oder in welchen Situationen dir das Einstehen für dich besonders schwer fällt.
  • Nein-sagen üben: Und zwar da, wo ein Nein erstmal ungefährlich ist. Du wirst dich nicht sofort wohlfühlen mit einem Nein, wenn du es schon lange nicht (oder noch nie) ausgesprochen hast. Bestimmt gibt es aber Situationen, in denen es dir leichter fällt. Dieses neue Verhalten will gelernt werden. Probiere es daher dort aus, wo du dich weitgehend sicher fühlst. Vielleicht ist das bei einer Freundin, die mit dir ins Kino oder auf einen Kaffee gehen will. Oder deine Arbeitskollegin, die dich darum bittet, eine Aufgabe für sie zu übernehmen. Wo auch immer du ein Nein in dir spürst und das Gefühl hast, dass dieses Nein theoretisch möglich wäre, probiere es aus, egal wie ungewohnt sich das anfangs anfühlen mag. Du stärkst so das Vertrauen in dich selbst. Denn jedes ehrliche Nein zu anderen ist ein ehrliches Ja zu dir selbst.
  • Gedankenexperiment „Was wäre wenn …“: Wer nie gelernt hat, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, kann anfangs leicht überfordert sein, wenn es darum geht, eben diese herauszufinden. Ein kleines Gedankenexperiment kann dabei unterstützen: Nimm dir ein paar Minuten Zeit und stelle dir folgende Frage: Was würde ich tun, wenn niemand Erwartungen an mich hätte und ich frei von Verpflichtungen wäre?
    Ebenso kannst du dir z.B. vorstellen, dass Wochenende ist. Du hast das ganze Wochenende nur für dich. Keine Termine, keine Familie, keine Pflichten. Du bist frei, dieses Wochenende so zu gestalten, wie du möchtest. Es gibt nichts, das von dir erwartet wird. Niemand, der etwas von dir möchte oder braucht. Was würdest du tun? Lange ausschlafen? Freunde treffen? Einem Hobby nachgehen? Verreisen? Lesen? Meditieren? Eine Massage buchen? Was immer es auch sein mag, diese Wünsche zeigen dir deine Bedürfnisse. Sie zeigen dir, was dich nährt und erfüllt. Und wenn du noch einen Schritt weitergehen möchtest, dann beginnst du damit, mehr davon in deinen Alltag zu holen.
  • Verbindung mit dir selbst: Anpassung verursacht auch immer Stress in unserem System, körperlich wie emotional. Oft sind wir schon so weit von uns entfernt, dass wir körperliche Bedürfnisse oder Zustände wie Erschöpfung, Müdigkeit oder Unruhe nicht mehr richtig wahrnehmen. Die Verbindung mit dem eigenen Körper und dem Inneren ist daher umso wichtiger. Selbst wenn es nur 5 Minuten täglich sind. Was hilft dir, dich mit dir selbst zu verbinden? Vielleicht ist es eine Meditation oder einfach nur ein paar Minuten bewusstes Atmen, ein kleiner Spaziergang in der Natur, ein heißes Bad … Finde heraus, was dir hilft, dich wieder mehr zu spüren. Besonders hilfreich ist alles, das auch den Körper miteinschließt. Denn die automatische Anpassung ist in jeder Zelle unseres Körpers gespeichert.
  • Innere Erlaubnis: Dieser Punkt ist vielleicht der wichtigste von allen – und für manche auch der schwierigste. All die soeben genannten Hilfestellungen sind wirkungslos, wenn du dir selbst nicht zugestehst, mehr auf dich zu achten, mehr für dich einzustehen und auch einmal gegen die Erwartungen der andern zu handeln oder zu entscheiden. Schenke dir selbst die Erlaubnis, deine Bedürfnisse zu achten, auch dir selbst Raum und Aufmerksamkeit zu nehmen und das zu tun, was für dich richtig ist, auch wenn andere das nicht so gut finden. Der Weg aus der (Über-)Anpassung führt über die innere Erlaubnis, ganz du selbst sein zu dürfen.

Weil es so wichtig ist, sei es hier noch einmal erwähnt: Dein inneres System braucht Zeit, um sich zu verändern. Es muss nach und nach lernen, dass die eigene Sicherheit nicht in Gefahr ist, auch wenn du dich nicht zu 100% anpasst. Beginne daher in kleinen Schritten, in Situationen, in denen du dich sicher fühlst. Jede positive Erfahrung, die du durch ein Nein oder das Einstehen für deine Bedürfnisse machst, stärkt dein Vertrauen in dich. Du entwickelst zunehmend Sicherheit, ganz du selbst zu sein und genau so sein zu dürfen. Dies bringt dir mehr Freiheit in deinem Handeln und deinen Entscheidungen.  Und du lebst nach und nach mehr deine Einzigartigkeit!